War schon Ernst Poettgens Inszenierung von Hindemiths »Revueoper« Neues vom Tage das Ereignis der Spielzeit 1960.61, so setzte Intendant Hans Schüler in der folgenden Spielzeit wieder auf eine Oper von Paul Hindemith (1895-1963). Diesmal sollte es die Uraufführung Das lange Weihnachtsmahl nach dem Text von Thornton Wilder (1897-1975) sein. Unter seiner eigenen Regie hatte das Werk am 17.12.1961 Premiere im Kleinen Haus. Hindemith hatte dafür mit Thornton Wilder eine Textfassung entwickelt, die er dann ins Deutsche übersetzte. Er dirigierte den Einakter auch selbst – genauso wie die europäische Erstaufführung seines Balletts Hérodiade (hier: Herodias) und die Mannheimer Erstaufführung seiner Tanzlegende Nobilissima Visione. Titel und Reihenfolge der vom Nationaltheater so genannten Produktion Drei Werke von Paul Hindemith erschließt sich auf dem Plakat nicht. Das erste Stück war Herodias, dann folgte Das lange Weihnachtsmahl und Nobilissima Visione beendete den Abend. Das Plakat stand ganz im Zeichen der Ehrung Paul Hindemiths und bildet das Rollenverzeichnis des neuen Werkes ab. Es macht Angaben zum Stimmumfang und Einsatz lt. Klavierauszug sowie zur Stimmlage und zur ungefähren Besetzung. Hinter den Besetzungsangaben verbergen sich Ensemblemitglieder, die auch schon beim Vorgängerstück »N. v. T.« [Neues vom Tage] mitgewirkt hatten. Den »Hermann (?)« dort spielte der Tenor Jean Cox, der nun für den »Charles« angedacht war. Dass er auch für den »Roderick II« in Frage käme, verweist darauf, dass Hindemith die Möglichkeit zu Doppelrollen vorgesehen hatte.
Dies machte dramaturgisch Sinn, denn Wilders »Legende von Geburt, Tod und ewiger Wiederkehr« komprimiert im Zeitraffer eine Familiengeschichte über 90 Jahre. Der Aufstieg und Fall einer amerikanischen Kaufmannsfamilie wird anhand ihrer Zusammenkünfte zum jährlichen Weihnachtsessen veranschaulicht. Gesellschaftliche Strömungen, Kriegsereignisse und veränderte Ansichten der Familienmitglieder fließen in die jeweilige Situation ein. Die Neuankömmlinge betraten das Esszimmer durch die vom Zuschauenden aus gesehene linke »Türe des Lebens« bzw. verließen es durch die rechte »Türe des Todes«. Den Höhepunkt des Stücks bildet das Quintett mit (v. l.) Gertrud Schretter-Petersik Geneviève), Eva-Maria Molnar (Lucia), Jean Cox (Charles), Thomas Tipton (Roderick) und Fred Dalberg (Brandon):
Dies machte dramaturgisch Sinn, denn Wilders »Legende von Geburt, Tod und ewiger Wiederkehr« komprimiert im Zeitraffer eine Familiengeschichte über 90 Jahre. Der Aufstieg und Fall einer amerikanischen Kaufmannsfamilie wird anhand ihrer Zusammenkünfte zum jährlichen Weihnachtsessen veranschaulicht. Gesellschaftliche Strömungen, Kriegsereignisse und veränderte Ansichten der Familienmitglieder fließen in die jeweilige Situation ein. Die Neuankömmlinge betraten das Esszimmer durch die vom Zuschauenden aus gesehene linke »Türe des Lebens« bzw. verließen es durch die rechte »Türe des Todes«. Den Höhepunkt des Stücks bildet das Quintett mit (v. l.) Gertrud Schretter-Petersik Geneviève), Eva-Maria Molnar (Lucia), Jean Cox (Charles), Thomas Tipton (Roderick) und Fred Dalberg (Brandon):
Brandon steht zu diesem Zeitpunkt als Haushaltsvorstand rechts und wird damit zum nächsten Anwärter, die Szenerie und damit das Leben zu verlassen. Bis dahin prosten sich alle zu, wenn auch gestisch. Das Essen steht nur in der Fantasie auf dem Tisch und man isst den Truthahn mit vorgestelltem Besteck. Paul Hindemith hatte dies in der Szenenanweisung so vorgeschrieben. In der Neuen Zürcher Zeitung lobte der Rezensent:
»Die größtmögliche Sparsamkeit von Hans Schülers Inszenierung hob das Sinnbildliche der Familienchronik ans Licht… Der Stolz des Nationaltheaters, das geschlossene und auf keinerlei Gäste angewiesene, wahrhaft gepflegte Ensemble bewährte sich in der gestischen Präzision wie im gesanglichen Ausdruck.«
Die Stimmung bei der Produktion scheint gut gewesen zu sein. Zu sehen sind männliche Mitglieder des Teams (v. l.) Thomas Tipton (Roderick), Hans Schüler (Regie), Paul Hindemith (Komposition und Dirigat), William Blankenship (Roderick II) und Jean Cox (Charles) – noch im Kostüm:
Und die Damen? Weglassen war ein Stilmittel der Zeit, das jede*n treffen konnte. Das Plakat der Uraufführung zur Weihnachtszeit teilte mit, dass die Musik die Hauptsache war. Der Choreograf der beiden Hindemith-Ballette wurde nicht genannt. Zur damaligen Zeit sprach man von »Tanzgestalter«. Dies war Heino Heiden (1923-2013), der Nachfolger von Ingeborg Guttmann als Ballettvorstand von 1960 bis 1963. Heiden wurde in Barmen (Wuppertal) geboren und kam auf Empfehlung von Werner Egk ans Nationaltheater. Die musikalische Einstudierung der Ballettmusik lag bei Wolfgang Liebold. Über Herodias nach einem Gedicht von Stephane Mallarmé erfährt man im Programmheft, dass es ursprünglich als »Hérodiade« für Martha Graham, die amerikanische Modern Dance-Ikone, geschaffen wurde. Von ihr wurde es in Washington uraufgeführt. Zum Inhalt wird ausgeführt:
Das Stück hat nur zwei Mitwirkende: Herodias und ihre Amme. Ob es sich bei dem überlieferten Szenenfoto um Uta Ollertz als Herodias oder Karen Kanner als ihre Amme handelt, wurde nicht vermerkt. Überraschend ist das Tragen von Spitzenschuhen bei diesem, ursprünglich für die Barfußtänzerin Martha Graham konzipierten Werk:
Auch bei Nobilissima Visione, der Tanzlegende nach Begebenheiten aus dem Leben des Franz von Assisi sind ballettstilistische Anmutungen zu finden. Die fünf Szenenbilder wurden bereits 1938 für das Ballet Russe de Monte Carlo von Paul Hindemith und Léonide Massine (1895-1979) geschaffen. Die Uraufführung erfolgte im gleichen Jahr in London. Weitere Aufführungen folgten in New York und den Vereinigten Staaten in der Choreografie von Massine, der auch den Franziskus tanzte. Auch in Deutschland wurde das Stück schon zuvor aufgeführt. Karen Kanner war in Heino Heidens Mannheimer Choreografie die choreografische Assistentin. Im Laufe des Balletts treten die allegorische Figuren der Keuschheit, Armut und Demut auf. Den Höhepunkt bildet die mystische Hochzeit zwischen der Figur der Armut und Franziskus sowie der anschließende franziskanische Sonnengesang. Das Programmheft beschreibt es so:
»Nach dem Text des franziskanischen Sonnengesangs entwickelt sich in der Musik eine breitangelegte Passacaglia, zu deren Variationen alle im Sonnengesang genannten symbolischen Figuren (Mond, Wasser, Feuer usw.) mit den Brüdern und Schwestern des Franziskanerordens sich zum großen Lobgesang vereinigen.«
Von Nobilissima Visione sind von den Mannheimer Fotografen Bohnert und Neusch einige Szenenfotografien überliefert. Eine davon zeigt die Vision in der Körpergeste des »Chest lift«, mit der sich die Tanzenden dem Göttlichen öffnen:
Die Premiere der Drei Stücke von Paul Hindemith erlebte ein besonderes Nachspiel. 1962 wurde das Nationaltheater zu den Berliner Festwochen mit Aufführungen am 30.09. und 01.10.1962 eingeladen. Und damit nicht genug: es gab ein Gastspiel in Paris vom 27.03. bis 29.03.1963! Diesmal dirigierte Kapellmeister Walther Knör. Auch die Programmzusammensetzung und -abfolge wurde geändert. Das Plakat gibt darüber Auskunft:
Auf Le long Repas de Noel folgte die Trilogie Les Opéras-minute (1927) von Darius Milhaud. Dazu zählen: L'Enlèvement d’Europe, das bereits 1927 auf dem Kammermusikfest in Baden-Baden (ZF 53) uraufgeführt wurde. 1928 folgten am Staatstheater Wiesbaden L'Abandon d’Ariane und La Délivrance de Thésée. Die Inszenierung für das Ereignis von 1963 stammte von Ulrich Reinhardt, der mehrfach am Nationaltheater Mannheim arbeitete. Das Plakat trägt den Vermerk »Création en France«, weil sie teilweise in Frankreich vor Ort von Reinhardt vorbereitet wurde. Von der Aufführung ist ein Szenenfoto von Mara Eggert überliefert:
1963 war ein wichtiges Jahr im Aufbau guter Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland. Der beeindruckende Gobelin von Jean Lurçat fand über dem Treppenaufgang A des Großen Hauses (Richtung Goethestraße) erstmals seine Position. Er wurde in den mittelfranzösischen Werkstätten von Aubusson-sur-Creuse gefertigt und trägt den Titel Mannheim (ZF 1).
Auch bei den Hindemiths ging es trotz aller Rückschläge durchaus aufwärts. In ihren legendären, von Hindemith selbst gestalteten Weihnachts- und Neujahrskarten nahmen sie Bezug auf Das lange Weihnachtsmahl:
Auch bei den Hindemiths ging es trotz aller Rückschläge durchaus aufwärts. In ihren legendären, von Hindemith selbst gestalteten Weihnachts- und Neujahrskarten nahmen sie Bezug auf Das lange Weihnachtsmahl:
Gertrud, wie immer als Löwin dargestellt, und Paul sitzen am reich gedeckten Tisch! Leider verstarb Paul Hindemith am 28.12.1963 unerwartet. Gertrud Hindemith überlebte ihn nur um vier Jahre. Das lange Weihnachtsmahl blieb Hindemiths letzte Oper. Deren Mannheimer Inszenierung war Hans Schülers letzte Regiearbeit. Gut erhalten ist eine sehr hörenswerte historische Aufnahme aus dem Nationaltheater Mannheim. Es musizieren das Ensemble und das Nationaltheater-Orchester unter Leitung von Paul Hindemith. Sie ist verfügbar in der Mediathek der Hindemith-Stiftung.
Dr. Laura Bettag
Bildnachweise, Literatur und Links:
- Kachelbild: MARCHIVUM, Bildsammlung, PK01989
- Nationaltheater Mannheim (Hg.)(1957). Festschrift, Hindemith: S. 101, Wilder: S. 37.
- Herbert Meyer (1979). Das Nationaltheater Mannheim 1929-1979. S. 203-294.
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