The Lighthouse
Oper von Peter Maxwell Davies
Eine wahre Begebenheit liegt der Handlung der Kammeroper von Peter Maxwell Davies zugrunde: Nachdem die Besatzung des Leuchtturms auf einer abgelegenen Insel im Nordwesten von Schottland spurlos verschwunden ist, versucht das Gericht, das Geheimnis ihres Verschwindens aufzuklären. Diese beklemmende Geschichte wird über die kurze Zeitspanne von knapp eineinhalb Stunden auf der Bühne rekonstruiert. Da die historische Wahrheit tatsächlich nie ergründet werden konnte, begibt sich der Komponist auf eine mystische Reise in das menschliche Unterbewusstsein und malt die letzten Stunden aus dem Leben dreier verschwundener Leuchtturmwärter enigmatisch in Musik aus. Abgründe der menschlichen Seele finden ihren musikalischen Ausdruck in den Klängen nordischer Meeresstürme und -fluten, während die Gespenster verdrängter Vergangenheit durch englische Volksmelodien zum Vorschein kommen. Als Auftragskomposition des Edinburgh Festival 1980 stellt »The Lighthouse« als Kammerspiel für drei Sänger und zwölf Instrumentalist*innen eine meisterhafte Fortsetzung der Tradition der Gespensteroper »The Turn of the Screw« von Benjamin Britten dar.
Hinweis:
- In der Inszenierung kommt Bühnennebel zum Einsatz.
Dirigent Michael Zlabinger zur Musik von Peter Maxwell Davies
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Zwölf Parts sieht die Orchesterbesetzung des »Lighthouse« vor: Flöte (nebst Piccolo und Altflöte) und (Bass)Klarinette, Trompete und Posaune, Gitarre und Klavier, reich besetztes Schlagwerk, Geige, Bratsche, Violoncello, Kontrabass. Um das Schlagwerk zu verstärken, übernehmen manche Spieler zusätzliche Aufgaben: so spielt die Bratsche auch Flexaton, die Geige Tamtam, die Gitarre große Trommel, und das Klavier neben Celesta und einem verstimmten Klavier sogar Schiedsrichterpfeife.
Fehlt noch das Horn, dem eine besondere Rolle zugedacht ist. (Es ist durchaus typisch für Davies, einzelne Instrumente mit Persönlichkeiten aufzuladen, und sie sehr sparsam und nur an strukturell/inhaltlich wichtigen Punkten im Werk einzusetzen.) Im Prolog außerhalb des Orchesters platziert, verkörpert es »den, der vor Gericht die Fragen stellt« (Davies).
Erstaunt es bei dieser Fülle an Instrumenten und Möglichkeiten, dass es im ganzen Werk nur eine einzige Stelle von ganzen acht Takten gibt, an der alle gleichzeitig ihr »eigentliches« Instrument spielen?
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Die Komposition des »Lighthouse« fußt auf mehreren – zumeist siebentönigen – Reihen bzw. Tonfolgen, auf die hier kurz eingegangen werden soll, weil ihre Gewinnung in mehrfacher Hinsicht zauberhaft ist. (Die Zahlensymbolik, von der das Werk voll ist, leitet sich wesentlich von der Tarotkarte des Turmes ab, der die Zahl 16 zugeordnet ist. Für die Organisation des musikalischen Materials noch bedeutender ist aber die Quersumme davon – sieben.) Am Anfang steht eine abwechselnd aus Halb- und Ganztönen gebildete Skala von insgesamt sieben (!) Tönen: C – D – Es – F – Ges – As – A. Auf jedem dieser Töne wird wiederum eine Transposition dieser Skala errichtet, wobei die daraus resultierenden insgesamt sieben Skalen in einem Quadrat untereinander angeordnet werden. Diese Anordnung wird nun mit dem sogenannten »Quadrat der Venus« kombiniert, einem magischen Quadrat von 7 x 7 Feldern, dessen Reihen jeweils die Summe von 175 aufweisen. (Es ist nicht das erste Werk, bei dem Davies mit magischen Quadraten arbeitet – auch beim großen »Ave maris stella«aus 1975 hat er sich schon dieser Technik bedient) So erhält man ganz zuoberst die charakteristische Folge F – Es – F – E – F – Es – F, mit der sich das Horn zuerst zu Wort meldet, und die für das gesamte Werk schicksalshaft gültig bleibt.
Freimütig bekennt Davies, er habe, wiewohl Reihenkomposition, »im ganzen Werk immer wieder ›falsche‹ Tonhöhen eingebaut« – aus Aberglauben, und wohl nicht ohne Augenzwinkern. (In mehrfacher Klammer sei der Vermutung Ausdruck verliehen, dies sei auch aus kompositorischer Notwendigkeit geschehen: denn schon in jener ersten Tonfolge des Horns findet sich eine solche »falsche« Note, die dem Motiv erst sein geschärftes Profil verleiht...)
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Aus zwei großen Teilen besteht das »Lighthouse«, einem Prolog und der eigentlichen »Oper«, die Davies mit »The Cry of the Beast« überschreibt. Diese Zweiteiligkeit spiegelt sich in der formalen Gestaltung des gesamten Werkes wider. Ein charakteristisches Terzett der Protagonisten eröffnet den Prolog (die »Gerichtssaalmusik«). Nach einer kurzen Überleitung erklingt die erste Frage des Horns, das schicksalshafte Septimenmotiv. Unversehens in einer Rückblende gefangen, berichten die drei Offiziere von ihrer Reise zum Leuchtturm, und tatsächlich malt hier die Musik: das Beschwerliche der Reise, das Meer mit Möwenrufen… (Im Prolog wird äußeres Erleben und seine Wirkung musikalisch gezeichnet, während in der Oper individuelle Figuren – sogar der Leuchtturm und die Tarotkarten! – musikalisch dargestellt werden). Endlich unterbricht das Horn den Bericht, und stellt seine zweite Frage, an die sich ein parallel zum ersten gestalteter Bericht anschließt. Da auch diese offenbar nicht zum gewünschten Ergebnis führt, ändert der Befragende (das Horn) die Taktik, und unterzieht die drei Offiziere einem (wiederum aus zwei einander entsprechenden Abschnitten bestehenden) »Kreuzverhör«, das jeweils von einem Terzett der drei abgeschlossen wird. Beide Male reagiert dieses Terzett nicht auf eine Frage des Horns, sondern bietet viel eher die Version der Ereignisse, auf die sich die drei offenbar geeinigt haben. Da nun auf Messers Schneide inhaltliche Details verhandelt werden, ist auch die Musik des »Kreuzverhörs« wesentlich abstrakter gehalten, mit vielen Taktwechseln und rhythmischen Finten. Eine kurze Reprise des Anfangs und ein Ausblick darauf, was »danach« – vom Standpunkt der Oper also in der Zukunft – geschehen sein wird, schließen den Prolog ab. (Das »Motiv des mechanischen Leuchtturms II« erklingt dann am Schluss der Oper und schafft so die große formale Klammer zwischen Prolog und Oper!) Eine kurze schematische Übersicht mag vielleicht besser darstellen, wie sich diese formalen Zusammenhänge verhalten:
Einleitung (Gerichtssaalmusik I)
Erste Frage des Horns, erster Bericht, Rückblende I
Zweite Frage des Horns, zweiter Bericht, Rückblende II
Kreuzverhör I (4 Fragen des Horns, 4 Antworten, Terzett der Offiziere I)
Kreuzverhör II (6 Fragen des Horns, 6 Antworten, Terzett der Offiziere II)
Reprise der Einleitung (Gerichtssaalmusik II)
Coda (Ausblick auf die »Zukunft«, Motiv des mechanischen Leuchtturms I)
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
In der »Oper« tragen die drei Protagonisten nicht nur Namen, sie haben auch ein instrumentales Gewand, das konsequent beibehalten wird, und eine jeweils eigene musikalische Sprache. Arthur, der Bass, wird von Bassklarinette und Marimba begleitet, einer merkwürdig schwer greifbaren, dunklen Kombination – fast ausschließlich äußert er sich in einem rezitativischen, quasi-liturgischen Ton. Sandy, den Tenor, begleitet das delikate Duo Gitarre und Cello bei seinen »einfachen« (nicht einfach zu singenden!) Legatophrasen. Dem Bariton, Blazes, ordnet Davies eine Kombination aus Posaunenglissandi und einem irrwitzig schweren Klavierpart zu. Cholerisch und wechselhaft wie Blazes’ Wesen sind auch seine Gesangsphrasen: riesige Intervallsprünge, scharfe dynamische Kontraste und der rasche Wechsel von normaler Singstimme, Sprechgesang und Falsett machen diese Partie geradezu halsbrecherisch.
Dem Leuchtturm selbst sind zwei Motive zugeordnet: Eines illustriert das automatisierte, mechanische Leuchten – ein kaltes, rhythmisch gleichförmiges und ad infinitum sich wiederholendes Ostinato. Das andere zeichnet den von Menschen bedienten Leuchtturm: rhythmisch viel profilierter, mit kleinen »Fehlstellen«, aber unverkennbar. Ein Vergleich der Tonfolgen beider Motive zeigt ihre unmittelbare Verwandtschaft: durch die Fortlassung von drei (!) Tönen ist das »mechanische« Motiv gewissermaßen geglättet, ohne individuelles Profil. Beide Motive treten zweimal auf, jeweils an zentralen Punkten der Entwicklung: das »mechanische« Motiv setzt den Schlusspunkt in Prolog und Oper. Das »menschliche« Leuchtturmmotiv erklingt vor der Kartenszene, und hier ist auch das Licht (mit)komponiert: Präzise ist in der Partitur vermerkt, in welchem Rhythmus das Blinklicht des Leuchtturms zu sehen sein soll. Bei der Wiederkehr dieses Motivs herrscht bereits Nebel...
Der in mehrfacher Hinsicht zentrale Punkt des Werkes ist die Kartenszene. Nicht nur hören wir in der »Voice of the Cards«, vom Bass gesungen, mannigfaltige Anspielungen auf Tarot-Karten, sondern hier wird auch (in der Flöte) das gesamte Reihenmaterial aus dem »Venus-Quadrat« exponiert. Aus dieser Szene entwickelt sich alles, fast ist es, also ob sich das Rad des Schicksals hier zu drehen begänne. Auch diese Musik begegnet uns ein zweites Mal: als Beginn der großen Steigerung, kurz vor der »Katastrophe«. Hier übernimmt die Linie der Flöte – das Horn (!).
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Die drei Songs der Leuchtturmwärter sind vorüber. Mit und in ihnen haben die drei tief blicken lassen, und dafür sogar vorübergehend ihr klangliches Gewand abgelegt – um ein anderes anzulegen? Oder um zu offenbaren, was sonst verborgen ist? Ein Street-Song mit Banjo, Rhythm Bones und Geige; eine viktorianische Ballade mit Klavier und Cello, wie sie in den Salons der besseren Gesellschaft musiziert worden sein mag, und eine Jahrmarktshymne der Heilsarmee, mit Blechbläsern und einem – ein besonders apartes Detail der Instrumentation – Tamburin. Alle drei Songs sind in einfacher Dur/Moll-Tonalität gehalten, gleichsam »Inseln« für den Zuhörer, wie Davies anmerkt. Man wird sie nach der Vorstellung auf der Straße pfeifen können... Die drei Songs sind vorüber, und es wird merkwürdig still. Nebel zieht auf, kurze Melodiefetzen der Songs gleiten vorüber, zunehmend verfremdet. Es ist Zeit, das Nebelhorn ertönen zu lassen – »Thank God the walls of the tower are thick, and preserve us from the brunt of that sound«, singt Arthur. Nur vom Marimba begleitet, ist dies einer der berührendsten Momente der Partitur: als ob noch einmal tiefer Friede herrschte...
Da ertönt das Nebelhorn, markerschütternd. Es ist der erste Einsatz des Horns in der »Oper«. Leise wiederholt die Flöte das Motiv: einem inneren Nachklingen gleich (nur im Leuchtturm? In der Seele der Protagonisten?). Die Mauern sind ja dick! – aber die Geister der Vergangenheit sind geweckt. Nacheinander, und immer wieder auf die Songs bezugnehmend, singen Blazes und Sandy ihre »Wahnsinnsarien« – formal ebenso deutlich abgegrenzt und »kadenzierend« wie ihre Vorgänger aus früheren Opern! Und immer wieder ertönt schicksalshaft das Septimen-Motiv des Horns, aus der Tiefe des Grabens.
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Was für eine Steigerung, was für eine aberwitzige Kombination! Im äußersten Fortissimo ein Choral der Leuchtturmwärter (ein Stilzitat Davies’ oder ein echtes Zitat? Immerhin zitiert er vor der Kartenszene die Hymne der Navy, das »Eternal Father, Strong to Save« – vom Bass gepfiffen wie ein Operettenschlager), im Orchester die »Gerichtssaalmusik«, eine absteigende (!) Halbton-Ganzton-Skala und das schicksalshafte Septimenmotiv (diesmal nicht im Horn, sondern mit Zimbeln und Becken – hell und höhnisch, wie ein höllisches Grinsen). Aber das (Nebel)horn übertönt alles. Unter dröhnenden Tamtam-Schlägen und dem infernalischen Lärm einer Trillerpfeife reißt die Musik ab.
Vor uns stehen wieder die drei Offiziere – zunächst noch spärlich von einzelnen Instrumenten begleitet, singen sie schließlich ganz a cappella. In einem kurzen Zwischenspiel stellt sich die musikalische Ordnung wieder her: archaische Quinten in Streichern und Celesta, in der Gitarre die Halbton-Ganztonskala, aus der das ganze musikalische Material gewonnen wurde, in der Altflöte eine weit ausschwingende, langsame Melodie. Auf der leeren Quint D-A verweht die Musik. »Is all in ship-shape order?«
Eine kurze Stille – eine letzte Kombination: das Gespräch der drei Leuchtturmwärter (Soli), die gerade gehörte Altflötenmelodie, diesmal in der Posaune, und der Bericht aus dem Gerichtssaal vom Anfang des Prologs (Gitarre, Celesta, Streicher). Just auf dem Wort »Fladda«, dem Namen der Insel, bleibt die Musik hängen. In der Flöte kündigt sich das Motiv des automatisierten Leuchtturms an, und wie aufsteigender Nebel verhüllt dieses Motiv alles, was wir so klar (?) gehört und gesehen hatten. Wieder hören wir das mechanisch blinkende Licht, das alle Fragen offen- und doch keine Frage zulässt. Nach dieser Musik beginnt die Oper, beginnt die Geschichte immer wieder neu.
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
– Michael Zlabinger. Essay für das Programmheft zu Peter Maxwell Davies’ »The Lighthouse«, Wiener Kammeroper, 2021.
Zwölf Parts sieht die Orchesterbesetzung des »Lighthouse« vor: Flöte (nebst Piccolo und Altflöte) und (Bass)Klarinette, Trompete und Posaune, Gitarre und Klavier, reich besetztes Schlagwerk, Geige, Bratsche, Violoncello, Kontrabass. Um das Schlagwerk zu verstärken, übernehmen manche Spieler zusätzliche Aufgaben: so spielt die Bratsche auch Flexaton, die Geige Tamtam, die Gitarre große Trommel, und das Klavier neben Celesta und einem verstimmten Klavier sogar Schiedsrichterpfeife.
Fehlt noch das Horn, dem eine besondere Rolle zugedacht ist. (Es ist durchaus typisch für Davies, einzelne Instrumente mit Persönlichkeiten aufzuladen, und sie sehr sparsam und nur an strukturell/inhaltlich wichtigen Punkten im Werk einzusetzen.) Im Prolog außerhalb des Orchesters platziert, verkörpert es »den, der vor Gericht die Fragen stellt« (Davies).
Erstaunt es bei dieser Fülle an Instrumenten und Möglichkeiten, dass es im ganzen Werk nur eine einzige Stelle von ganzen acht Takten gibt, an der alle gleichzeitig ihr »eigentliches« Instrument spielen?
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Die Komposition des »Lighthouse« fußt auf mehreren – zumeist siebentönigen – Reihen bzw. Tonfolgen, auf die hier kurz eingegangen werden soll, weil ihre Gewinnung in mehrfacher Hinsicht zauberhaft ist. (Die Zahlensymbolik, von der das Werk voll ist, leitet sich wesentlich von der Tarotkarte des Turmes ab, der die Zahl 16 zugeordnet ist. Für die Organisation des musikalischen Materials noch bedeutender ist aber die Quersumme davon – sieben.) Am Anfang steht eine abwechselnd aus Halb- und Ganztönen gebildete Skala von insgesamt sieben (!) Tönen: C – D – Es – F – Ges – As – A. Auf jedem dieser Töne wird wiederum eine Transposition dieser Skala errichtet, wobei die daraus resultierenden insgesamt sieben Skalen in einem Quadrat untereinander angeordnet werden. Diese Anordnung wird nun mit dem sogenannten »Quadrat der Venus« kombiniert, einem magischen Quadrat von 7 x 7 Feldern, dessen Reihen jeweils die Summe von 175 aufweisen. (Es ist nicht das erste Werk, bei dem Davies mit magischen Quadraten arbeitet – auch beim großen »Ave maris stella«aus 1975 hat er sich schon dieser Technik bedient) So erhält man ganz zuoberst die charakteristische Folge F – Es – F – E – F – Es – F, mit der sich das Horn zuerst zu Wort meldet, und die für das gesamte Werk schicksalshaft gültig bleibt.
Freimütig bekennt Davies, er habe, wiewohl Reihenkomposition, »im ganzen Werk immer wieder ›falsche‹ Tonhöhen eingebaut« – aus Aberglauben, und wohl nicht ohne Augenzwinkern. (In mehrfacher Klammer sei der Vermutung Ausdruck verliehen, dies sei auch aus kompositorischer Notwendigkeit geschehen: denn schon in jener ersten Tonfolge des Horns findet sich eine solche »falsche« Note, die dem Motiv erst sein geschärftes Profil verleiht...)
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Aus zwei großen Teilen besteht das »Lighthouse«, einem Prolog und der eigentlichen »Oper«, die Davies mit »The Cry of the Beast« überschreibt. Diese Zweiteiligkeit spiegelt sich in der formalen Gestaltung des gesamten Werkes wider. Ein charakteristisches Terzett der Protagonisten eröffnet den Prolog (die »Gerichtssaalmusik«). Nach einer kurzen Überleitung erklingt die erste Frage des Horns, das schicksalshafte Septimenmotiv. Unversehens in einer Rückblende gefangen, berichten die drei Offiziere von ihrer Reise zum Leuchtturm, und tatsächlich malt hier die Musik: das Beschwerliche der Reise, das Meer mit Möwenrufen… (Im Prolog wird äußeres Erleben und seine Wirkung musikalisch gezeichnet, während in der Oper individuelle Figuren – sogar der Leuchtturm und die Tarotkarten! – musikalisch dargestellt werden). Endlich unterbricht das Horn den Bericht, und stellt seine zweite Frage, an die sich ein parallel zum ersten gestalteter Bericht anschließt. Da auch diese offenbar nicht zum gewünschten Ergebnis führt, ändert der Befragende (das Horn) die Taktik, und unterzieht die drei Offiziere einem (wiederum aus zwei einander entsprechenden Abschnitten bestehenden) »Kreuzverhör«, das jeweils von einem Terzett der drei abgeschlossen wird. Beide Male reagiert dieses Terzett nicht auf eine Frage des Horns, sondern bietet viel eher die Version der Ereignisse, auf die sich die drei offenbar geeinigt haben. Da nun auf Messers Schneide inhaltliche Details verhandelt werden, ist auch die Musik des »Kreuzverhörs« wesentlich abstrakter gehalten, mit vielen Taktwechseln und rhythmischen Finten. Eine kurze Reprise des Anfangs und ein Ausblick darauf, was »danach« – vom Standpunkt der Oper also in der Zukunft – geschehen sein wird, schließen den Prolog ab. (Das »Motiv des mechanischen Leuchtturms II« erklingt dann am Schluss der Oper und schafft so die große formale Klammer zwischen Prolog und Oper!) Eine kurze schematische Übersicht mag vielleicht besser darstellen, wie sich diese formalen Zusammenhänge verhalten:
Einleitung (Gerichtssaalmusik I)
Erste Frage des Horns, erster Bericht, Rückblende I
Zweite Frage des Horns, zweiter Bericht, Rückblende II
Kreuzverhör I (4 Fragen des Horns, 4 Antworten, Terzett der Offiziere I)
Kreuzverhör II (6 Fragen des Horns, 6 Antworten, Terzett der Offiziere II)
Reprise der Einleitung (Gerichtssaalmusik II)
Coda (Ausblick auf die »Zukunft«, Motiv des mechanischen Leuchtturms I)
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
In der »Oper« tragen die drei Protagonisten nicht nur Namen, sie haben auch ein instrumentales Gewand, das konsequent beibehalten wird, und eine jeweils eigene musikalische Sprache. Arthur, der Bass, wird von Bassklarinette und Marimba begleitet, einer merkwürdig schwer greifbaren, dunklen Kombination – fast ausschließlich äußert er sich in einem rezitativischen, quasi-liturgischen Ton. Sandy, den Tenor, begleitet das delikate Duo Gitarre und Cello bei seinen »einfachen« (nicht einfach zu singenden!) Legatophrasen. Dem Bariton, Blazes, ordnet Davies eine Kombination aus Posaunenglissandi und einem irrwitzig schweren Klavierpart zu. Cholerisch und wechselhaft wie Blazes’ Wesen sind auch seine Gesangsphrasen: riesige Intervallsprünge, scharfe dynamische Kontraste und der rasche Wechsel von normaler Singstimme, Sprechgesang und Falsett machen diese Partie geradezu halsbrecherisch.
Dem Leuchtturm selbst sind zwei Motive zugeordnet: Eines illustriert das automatisierte, mechanische Leuchten – ein kaltes, rhythmisch gleichförmiges und ad infinitum sich wiederholendes Ostinato. Das andere zeichnet den von Menschen bedienten Leuchtturm: rhythmisch viel profilierter, mit kleinen »Fehlstellen«, aber unverkennbar. Ein Vergleich der Tonfolgen beider Motive zeigt ihre unmittelbare Verwandtschaft: durch die Fortlassung von drei (!) Tönen ist das »mechanische« Motiv gewissermaßen geglättet, ohne individuelles Profil. Beide Motive treten zweimal auf, jeweils an zentralen Punkten der Entwicklung: das »mechanische« Motiv setzt den Schlusspunkt in Prolog und Oper. Das »menschliche« Leuchtturmmotiv erklingt vor der Kartenszene, und hier ist auch das Licht (mit)komponiert: Präzise ist in der Partitur vermerkt, in welchem Rhythmus das Blinklicht des Leuchtturms zu sehen sein soll. Bei der Wiederkehr dieses Motivs herrscht bereits Nebel...
Der in mehrfacher Hinsicht zentrale Punkt des Werkes ist die Kartenszene. Nicht nur hören wir in der »Voice of the Cards«, vom Bass gesungen, mannigfaltige Anspielungen auf Tarot-Karten, sondern hier wird auch (in der Flöte) das gesamte Reihenmaterial aus dem »Venus-Quadrat« exponiert. Aus dieser Szene entwickelt sich alles, fast ist es, also ob sich das Rad des Schicksals hier zu drehen begänne. Auch diese Musik begegnet uns ein zweites Mal: als Beginn der großen Steigerung, kurz vor der »Katastrophe«. Hier übernimmt die Linie der Flöte – das Horn (!).
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Die drei Songs der Leuchtturmwärter sind vorüber. Mit und in ihnen haben die drei tief blicken lassen, und dafür sogar vorübergehend ihr klangliches Gewand abgelegt – um ein anderes anzulegen? Oder um zu offenbaren, was sonst verborgen ist? Ein Street-Song mit Banjo, Rhythm Bones und Geige; eine viktorianische Ballade mit Klavier und Cello, wie sie in den Salons der besseren Gesellschaft musiziert worden sein mag, und eine Jahrmarktshymne der Heilsarmee, mit Blechbläsern und einem – ein besonders apartes Detail der Instrumentation – Tamburin. Alle drei Songs sind in einfacher Dur/Moll-Tonalität gehalten, gleichsam »Inseln« für den Zuhörer, wie Davies anmerkt. Man wird sie nach der Vorstellung auf der Straße pfeifen können... Die drei Songs sind vorüber, und es wird merkwürdig still. Nebel zieht auf, kurze Melodiefetzen der Songs gleiten vorüber, zunehmend verfremdet. Es ist Zeit, das Nebelhorn ertönen zu lassen – »Thank God the walls of the tower are thick, and preserve us from the brunt of that sound«, singt Arthur. Nur vom Marimba begleitet, ist dies einer der berührendsten Momente der Partitur: als ob noch einmal tiefer Friede herrschte...
Da ertönt das Nebelhorn, markerschütternd. Es ist der erste Einsatz des Horns in der »Oper«. Leise wiederholt die Flöte das Motiv: einem inneren Nachklingen gleich (nur im Leuchtturm? In der Seele der Protagonisten?). Die Mauern sind ja dick! – aber die Geister der Vergangenheit sind geweckt. Nacheinander, und immer wieder auf die Songs bezugnehmend, singen Blazes und Sandy ihre »Wahnsinnsarien« – formal ebenso deutlich abgegrenzt und »kadenzierend« wie ihre Vorgänger aus früheren Opern! Und immer wieder ertönt schicksalshaft das Septimen-Motiv des Horns, aus der Tiefe des Grabens.
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
Was für eine Steigerung, was für eine aberwitzige Kombination! Im äußersten Fortissimo ein Choral der Leuchtturmwärter (ein Stilzitat Davies’ oder ein echtes Zitat? Immerhin zitiert er vor der Kartenszene die Hymne der Navy, das »Eternal Father, Strong to Save« – vom Bass gepfiffen wie ein Operettenschlager), im Orchester die »Gerichtssaalmusik«, eine absteigende (!) Halbton-Ganzton-Skala und das schicksalshafte Septimenmotiv (diesmal nicht im Horn, sondern mit Zimbeln und Becken – hell und höhnisch, wie ein höllisches Grinsen). Aber das (Nebel)horn übertönt alles. Unter dröhnenden Tamtam-Schlägen und dem infernalischen Lärm einer Trillerpfeife reißt die Musik ab.
Vor uns stehen wieder die drei Offiziere – zunächst noch spärlich von einzelnen Instrumenten begleitet, singen sie schließlich ganz a cappella. In einem kurzen Zwischenspiel stellt sich die musikalische Ordnung wieder her: archaische Quinten in Streichern und Celesta, in der Gitarre die Halbton-Ganztonskala, aus der das ganze musikalische Material gewonnen wurde, in der Altflöte eine weit ausschwingende, langsame Melodie. Auf der leeren Quint D-A verweht die Musik. »Is all in ship-shape order?«
Eine kurze Stille – eine letzte Kombination: das Gespräch der drei Leuchtturmwärter (Soli), die gerade gehörte Altflötenmelodie, diesmal in der Posaune, und der Bericht aus dem Gerichtssaal vom Anfang des Prologs (Gitarre, Celesta, Streicher). Just auf dem Wort »Fladda«, dem Namen der Insel, bleibt die Musik hängen. In der Flöte kündigt sich das Motiv des automatisierten Leuchtturms an, und wie aufsteigender Nebel verhüllt dieses Motiv alles, was wir so klar (?) gehört und gesehen hatten. Wieder hören wir das mechanisch blinkende Licht, das alle Fragen offen- und doch keine Frage zulässt. Nach dieser Musik beginnt die Oper, beginnt die Geschichte immer wieder neu.
Am Fuß des Leuchtturms ist es dunkel.
– Michael Zlabinger. Essay für das Programmheft zu Peter Maxwell Davies’ »The Lighthouse«, Wiener Kammeroper, 2021.
Hintergrund
Der Leuchtturm
auf den Flannan-Inseln
Besetzung
Mit
Sandy / 1. OffizierChristopher Diffey
Blazes / 2. OffizierTimothy Connor
Arthur / 3. Offizier / Stimme der KartenBartosz Urbanowicz
OrchesterNationaltheater-Orchester
Musikalische LeitungMichael Zlabinger
RegieRahel Thiel
BühneFabian Wendling
KostümeRebekka Dornhege Reyes
LichtFlorian Arnholdt
DramaturgiePolina Sandler
Kunst & VermittlungOliver Riedmüller
Pressestimmen
»Atemberaubend gut.« (SWR2, 24.04.2023)
»Fantastische Kammeroper.« (Die Rheinpfalz, 25.04.2023)
»Dirigent kompetent, drei Sänger aus dem hauseigenen Ensemble in Höchstform, ein hochmotiviertes Orchester und eine Regie, die fast entsagungsvoll den logischen Brüchen des Stückes nachspürt: Der Erfolg der Neuproduktion war da schon eingepreist.« (Die Rheinpfalz, 25.04.2023)
»Die zwölf Musizierenden des rund 100-köpfigen Nationaltheaterorchesters unter dem eingesprungenen Dirigenten Michael Zlabinger spielen Davies’ Partitur präzise und plastisch.« (Mannheimer Morgen, 25.04.2023)
»Der lebhafte Reichtum der Orchestermusik von Maxwell Davies wird meisterhaft von den zwölf Musikern des Nationaltheater-Orchesters vorgetragen.« (Il giornale della musica, 29.04.2023)
»Rahel Thiels Regie zeigt sich den Unwägbarkeiten des kruden Plots unbedingt gewachsen. Da wird nicht herumfantasiert, werden keine Nebenhandlungen erfunden oder Gewissheiten transportiert, die Ununterscheidbarkeit von Realität und Schein bleibt so unauflösbar, wie sie ist.« (Die Rheinpfalz, 25.04.2023)
»Christopher Diffey als Sandy, der Blazes von Timothy Connor und Bartosz Urbanowicz als Arthur, sind darstellerisch wie stimmlich das homogene Epizentrum dieser Klangbilder zwischen Landschaftsmalerei, Kriminalfall und Horrorgeschichte.« (SWR2, 24.04.2023)
»Die Regisseurin setzt die exzellenten Darsteller ausgezeichnet in Szene.« (Il giornale della musica, 29.04.2023)
»Die drei Männer spielen und singen das sehr gut. […] Die Duette und Terzette der drei Sänger sind ein wahrer Genuss.« (Mannheimer Morgen, 25.04.2023)
»Von Regisseurin Rahel Thiel perfekt angeleitet, machen die drei Sänger-Darsteller aus dem kriminalistischen Plot einen Seelenstriptease, der beklemmender nicht sein könnte.« (Opernglas, Juni 2023)
»Fantastische Kammeroper.« (Die Rheinpfalz, 25.04.2023)
»Dirigent kompetent, drei Sänger aus dem hauseigenen Ensemble in Höchstform, ein hochmotiviertes Orchester und eine Regie, die fast entsagungsvoll den logischen Brüchen des Stückes nachspürt: Der Erfolg der Neuproduktion war da schon eingepreist.« (Die Rheinpfalz, 25.04.2023)
»Die zwölf Musizierenden des rund 100-köpfigen Nationaltheaterorchesters unter dem eingesprungenen Dirigenten Michael Zlabinger spielen Davies’ Partitur präzise und plastisch.« (Mannheimer Morgen, 25.04.2023)
»Der lebhafte Reichtum der Orchestermusik von Maxwell Davies wird meisterhaft von den zwölf Musikern des Nationaltheater-Orchesters vorgetragen.« (Il giornale della musica, 29.04.2023)
»Rahel Thiels Regie zeigt sich den Unwägbarkeiten des kruden Plots unbedingt gewachsen. Da wird nicht herumfantasiert, werden keine Nebenhandlungen erfunden oder Gewissheiten transportiert, die Ununterscheidbarkeit von Realität und Schein bleibt so unauflösbar, wie sie ist.« (Die Rheinpfalz, 25.04.2023)
»Christopher Diffey als Sandy, der Blazes von Timothy Connor und Bartosz Urbanowicz als Arthur, sind darstellerisch wie stimmlich das homogene Epizentrum dieser Klangbilder zwischen Landschaftsmalerei, Kriminalfall und Horrorgeschichte.« (SWR2, 24.04.2023)
»Die Regisseurin setzt die exzellenten Darsteller ausgezeichnet in Szene.« (Il giornale della musica, 29.04.2023)
»Die drei Männer spielen und singen das sehr gut. […] Die Duette und Terzette der drei Sänger sind ein wahrer Genuss.« (Mannheimer Morgen, 25.04.2023)
»Von Regisseurin Rahel Thiel perfekt angeleitet, machen die drei Sänger-Darsteller aus dem kriminalistischen Plot einen Seelenstriptease, der beklemmender nicht sein könnte.« (Opernglas, Juni 2023)
Aktuell keine Termine.